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Ergänzend zur Printausgabe der PHOTONEWS starteten wir Ende 2011 einen Blog zum Themenschwerpunkt Fotobuch mit Rezensionen, Interviews und Debatten. PHOTONEWS Blogbuch wird von dem Fotobuch-Experten Peter Lindhorst betreut.
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Erik Hinz »Twenty-one years in one second«
Eintauchen möchte ich in die sprudelnde Bilderwelt von Erik Hinz. Darüber singen, was mir so sehr gefällt. Ich schließe und öffne mein Maul, doch mein Gesang, und sei er noch so laut, ist für euch nicht vernehmbar, denn ich bin nur ein stummer Fisch. Und so müsst ihr also selbst eintauchen in das, was Erik Hinz vor euch ausbreitet und entdecken, wovon ich euch nicht berichten kann.
Was für ein Vergnügen es wäre, ein Fisch zu sein und diese kleine Rezension nur aus Strichen und Kreisbögen entstehen zu lassen. Keine Wörter, keine Erklärungen. Das Fischmaul entlässt Kreisbögen, die vielleicht Zustimmung für das ausdrücken könnten, was im Buch präsentiert wird.
Was das alles bedeutet? In die Mitte des neuen Buches von Erik Hinz ist Christian Morgensterns Gedicht „Fisches Nachtgesang“ eingefügt. Ein wortloses Gedicht, nur aus metrischen Symbolen von Strichen und Bögen bestehend, die in der Form eines Fisches angeordnet sind und dessen stummen Gesang wiedergeben sollen.
Erik Hinz ist ein Fotojournalist, der in Münster lebt. Er ist Jahrgang 1967 und fotografiert weltweit. Mehr erfahren wir nicht über ihn in seinem neuen Buch „Twenty-one years in one second“. Vielleicht will der Fotograf auch gar nicht, dass wir abgelenkt werden, sondern will in dem schön gemachten Band einfach Bilder zeigen, die kreuz und quer auf seinen Reisen entstanden sind und lange in der Schublade geschlummert haben. Die jetzt ans Licht gekommenen Fotos sind stark und erzählen ihre eigenen Geschichten und laden zu zahlreichen Interpretationen ein. Ganz wie ein Morgensterngedicht.
Ein weit geöffneter Mund eines Jungen, der uns etwas begeistert mitteilen möchte, aber stumm wie der angesprochene Fisch bleibt, schmückt den Titel. Der Junge steht in einer Menschenmasse, der Himmel hat sich dunkel gefärbt von den Rauchschwaden verbrennender Reifen. Der Effekt dieser Szene nimmt auch bei mehrmaligen Anschauen nicht ab: man wird völlig angesteckt von dem entwaffnenden Blick des Jungen. Nur allzu gerne möchte man sich verschlucken lassen von dessen aufgerissenen Mund, um in ein wildes Potpourri im Buchinneren zu geraten. Dort sind Bilder aus immerhin 21 Jahren von verschiedensten Orten diese Welt enthalten.
In der Regel kann ich mit Bildsammlungen dieser Art, mit Best-Of-Alben, rein gar nichts anfangen. Hier geht es mir aber ganz und gar anders. Die Gestaltung des Buches ist angenehm zurückhaltend und nimmt den Album-Charakter immer wieder offensiv auf. Manchmal findet man vier Fotos völlig verschiedener Orte auf einer Doppelseite, die sich bei näherem Betrachten aber dennoch miteinander thematisch verknüpfen.
Das, was alle Bilder miteinander verbindet, ist der ironisch, zuweilen wehmütige Blick von Erik Hinz, der von dem Irrsinn des Alltags und den oft aberwitzigen Bedingungen des Menschseins kündet. Der Fotograf ist viel herumgestreift in den Straßen der Städte, die dort entstandenen Bilder sind überaus hintersinnig.
Dem französischen Dichter Frédéric Mistral ist ein Standbild in Arles gewidmet. Hinz hat dieses aufgenommen in dem Moment, als im Hintergrund ein Mann in die Szene tritt, der mit Hut und Anzug wie die Reinkarnation des Dichters aussieht. Weiter hinten im Buch jene Szene: Ein junger Mann hat den Oberkörper entblößt, der Bauch hängt über die Hose. An einer Mauer lehnend trinkt er aus einer Bierdose. Neben ihm hängt ein halb zerfetztes Plakat, das ausgerechnet den durchtrainierten Oberkörper des Supermodels Markus Schenkenberg präsentiert. Das ist komisch-grotesk, ohne dabei wirklich denunziatorisch zu sein. Doch Hinz will nicht immer nur komisch sein. Ein Gruppenporträt der jungen Männer im Knast bremst für einen Augenblick unsere Fröhlichkeit aus.
So halten sich das Lustige und Melancholische zumeist die Waage. Erik Hinz beweist einen Blick für das Menschliche, er arbeitet die Essenz einer Situation exakt heraus. Da ist er ganz ähnlich wie eines seiner Vorbilder, das fast unbemerkt im Buch auftaucht als kaffeetrinkender Gast einer Bar – es ist niemand anderes als der große türkische Fotograf Ara Güler.
Eric Hinz lässt die Menschen handeln und beobachtet sie genau, ohne sie zu stören. Darin ist er ziemlich meisterhaft. Einmal sieht man, wie ein Junge kopfüber durch die Luft wirbelt. Der Fotograf hat ihn so aufgenommen, als ob dieser allen physikalischen Gesetzen trotzen könnte. Ein unfassbares Bild!
Doch schließlich merke ich: Die Bilder sind zu gut, um sie einfach nachzuerzählen.
Da wäre ich doch lieber Fisch sein und würde stumm für euch singen. Mein Gesang soll euch erreichen und neugierig machen. Anschauen müsst ihr selbst! (Peter Lindhorst)
Erik Hinz. Twenty-one years in one second. Berlin, 2016. Peperoni Verlag. 142 S. mit 100 teils doppels. Fotos. ISBN 978-3-941825-81-9. Hc. 45,00 Euro
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