Informationen zu Aktuell
Hier finden Sie Hinweise zu aktuellen Veranstaltungen, die uns nach Redaktionsschluss erreicht haben sowie Ergänzungen (Nachschlag) zur jeweils aktuellen PHOTONEWS Ausgabe.
Nachschlag
Nach Redaktionsschluss
PHOTONEWS Online-Debatte:
Der Kulturkampf erreicht Archive und Verlage
am 21. Oktober 2020 um 19 Uhr
mit
Peter Bialobrzeski (Fotograf, Fotoprofessor HfK Bremen),
Anika Meier (Kritikerin und Kuratorin)
Ulf Erdmann Ziegler (Schriftsteller)
Miriam Zlobinski (Historikerin und Kuratorin).
Moderation: Anna Gripp/Photonews
Hier der Film auf Youtube:
Auszug aus den Chat-Beiträgen zur Debatte:
Michael Schulz To All Panelists: Wer in dem pairing der Bilder in dem Buch Rassismus erkennt, ist eher selbst zu hinterfragen. Wer ständig auf der Suche nach etwas ist um sich aufzuregen wird etwas finden. Parr hat sich für absolut nichts zu entschuldigen.
Die Absicht jemanden zerstören zu wollen, nur weil etwas nicht der Meinung der Selbsterwählten entspricht. Hier in den USA hat es sehr dramatische Ausuferungen angenommen.
Was hier auf dem Spiel steht ist die freie Meinungsaeusserung, aber das scheint niemand mitzubekommen, weil sich alle so unheimlich schuldig fühlen.
Felix Koltermann To All Panelists: Anstatt über Identitätspolitik und Cancelculture zu sprechen, wäre doch gerade das Beispiel von David Alan Harvey ein gutes, um über Probleme der Kontextualisierung in Datenbanken und Archiven zu sprechen. Denn es wäre möglich, die Bilder im Magnum Archiv eben nicht so schlecht zu verschlagworten, wie es geschehen ist. Dafür ist die Agentur verantwortlich. Denn eine schlechte Verschlagwortung führt oft auch zu problematischer Verwendung. Und dieses Thema findet sich dann auch bei aktuellen Bildern und deren Verwendung immer wieder. Von daher ist die Problematisierung von Verschlagwortung extrem wichtig.
Andreas Oetker-Kast To All Panelists: Kurzer Hinweis zu DAH/Magnum: laut eines Artikels im Guardian und weiterer Medien wurde DAH nicht aufgrund der Bilder zur Kinderprostitution suspendiert, sondern aufgrund eines Vorwurfs der sexuellen Belästigung … https://www.theguardian.com/artanddesign/2020/aug/20/magnum-suspends-photographer-david-alan-harvey-over-harassment-claim?fbclid=IwAR2R3kTWSEw11pYCpKPpSejwjkH9cbF8HHeHRvpG0hyyqvjUe6t2piHO-IA - ich denke das ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig.
Attila Hartwig in F&A: Warum fällt es unserer „Mehrheitsgesellschaft“ so schwer, marginalisierten und unterrepräsentierten Gruppen Raum zu geben? Es klingt immer nach einer Angst, dass ihnen was weggenommen wird.
Und hier zum Nachlesen der Artikel in PHOTONEWS 10/2020, Seite 3:
Der Wunsch, ein Motiv zu suchen
Der Kulturkampf erreicht die Archive und Verlage.
Ein Weckruf – von Ulf Erdmann Ziegler
Ikonoklasten hat es wahrscheinlich gegeben, seit es Bilder gibt. In der Folge der Reformation waren es die Protestanten, die Kirchen von magischem Plunder befreiten. Die französischen Revolutionäre haben Kirchen dem Erdboden gleichgemacht. Eine zeitgenössische Form des Bilderverbots, real life, bietet das iranische Mullah-Regime. Der letzte große puritanische „culture war“ in den USA drehte sich um die Bilder von Robert Mapplethorpe.
Die jüngste Wendung des Kulturkampfes besteht in einem Angriff des Portals „Fstoppers“ auf die Agentur Magnum durch einen Fotografen namens Andy Day. Nun darf man sich natürlich fragen: Magnum kennen wir - aber was ist denn dieses Portal, wer dieser schreibende Fotograf? Die Antwort führt direkt in die Logik der Bilderstürmerei: Es braucht keine kulturelle Qualifikation, um ein Bild oder das Bildhafte zu zerstören. Das kann jeder und jede. Was für eine Mühe es ist, ein Haus aufzubauen - eine Kleinigkeit, es anzuzünden.
Das Haus heißt hier Magnum, und Day hat seine Lunten gleich mehrfach gelegt. Er behauptet, dass die Agentur „möglicherweise seit mehr als dreißig Jahren“ Bilder anbiete, die einen zweifelhaften Kontext von Kindern mit Sexualität etablierten; nicht thematisierten, sondern selbst herstellten. Seine Lieblingshassreportage stammt von David Alan Harvey und handelt von westlichen Puffgängern, die Kinderprostituierte in Bangkok zum Ziel hatten - 1989. Harvey zeigte die Kinder so, wie die Männer sie sahen. Wie man weiß, hat die westliche Welt darauf reagiert. Wer nach Asien jettet, um dort Mißbrauch auszuüben, kann in der ganzen Welt bestraft werden und wird es auch.
Day, der aus Großbritannien stammt und angeblich in Paris residiert - falls ja, hat er von Paris nichts gelernt -, stört sich auch an Bildern kleiner Mädchen von Harry Gruyaert und Patrick Zachmann, die er für „Familienfotos“ hält. Er bleibt allerdings nicht bei der Frage nackter Kinder, sondern stellt sich zugleich schützend vor erwachsene nackte Huren, die Miguel Rio Branco in Salvador da Bahia fotografiert hat; sein Buch „Dulce Sudor Amargo“ war 1985 erschienen.
Auf „Fstoppers“ werden die Fundwebseiten bei Magnum abgebildet, aber die Körper sind schwarz verblendet. Day zensiert also das Material, das er bespricht. Gleichzeitig behauptet er - von Harveys Bangkok abgesehen -, dass nicht die Bilder das Problem wären, sondern die Aufbereitung durch Magnum. Bei einem der kleinen Mädchen, kein Witz, enerviert ihn das lexikalische Wort „sex education“. An der Verschlagwortung einer Prostituierten in Bahia echauffiert er sich über „Vulva“. Eine kleine Anmerkung dazu verrät ihn: „Es ist unklar“, schreibt Day, „warum irgendjemand den Wunsch haben sollte, das Magnumarchiv nach Bildern zu durchsuchen, die mit „Vulva“ verschlagwortet sind.“
Die Antwort ist leicht gegeben. Man braucht nur „Vulva“ zu googeln und auf „Bilder“ drücken - schon findet man redaktionelle Beiträge des Mitteldeutschen Rundfunks („Mal ehrlich, kennen Sie die Vulva?“) und aus der taz (ein Kommentar zum Spiel mit Vulvamotiven im Prêt-à-porter). Beide Beiträge sind im Fundergebnis illustriert.
Die Verschlagwortung bei Agenturen ist eine Kunst für sich. Man muss davon ausgehen, dass jemand ein Bild sucht, das er oder sie noch nicht kennt. Insofern wird eine plausible Liste von „keywords“ alles enthalten, was bildlich eine Antwort sein könnte auf das, was thematisch oder motivisch gesucht wird; das Narrative und das Illustrative, Ironie und Metapher eingeschlossen. Man kann mit Schlagwortverzeichnissen keine Fährten auslegen und keine Kontexte schaffen. Die meisten Systeme listen die Begriffe alphabetisch und am Ende kommen die Zahlen („18 - 25 Jahre“).
Algorithmen sind nicht sinnstiftend. Im Gegenteil, sie reihen endlos nach tatsächlicher oder vermeintlicher Ähnlichkeit. Meine Suche nach „Mädchenbeinen“ - ich dachte an ein Schulkind mit dünnen Beinen, frontal, als Vorlage für eine Illustration - führte mich neulich unter „Google-Bilder“ in einen Wald von Absurditäten, auf dessen Lichtung die anatomisch nicht zu übertreffende Gummipuppe zum Verkauf auslag. Wenn man das, in einem kulturpessimistischen Anfall, als Sinnstiftung missversteht, erscheint die Welt voller Abgründe.
Insofern könnte man behaupten, dass das Internet pervers wäre, irreführend oder nihilistisch. Andererseits, wer seine Perversionen ausleben will, folgt nicht der Perversion zufälliger Nachbarschaft, sondern den Algorithmen wie jeder andere auch. Konventionelle Suchmaschinen verlangen immer Worte oder Zahlen, aber kaum ist man im Bereich der Bilder, kann man auch als Analphabet endlos blättern. Das wiederum heißt nicht, dass der Algorithmus die Bilder als solche tatsächlich erfasst hat, denn unter den vielen Bildern bei Getty oder Pinterest liegen ja wiederum die Schlagworte.
„F-Stoppers“ ist eigentlich eine harmloses Halblaienmagazin zur Anzeigenakquise: „5 Tips to Master Your Wide-Angle Landscape Photography“. Der politische Kolumnismus ist dort neu und wurde in Leserkommentaren sehr wohl als - möglicherweise persönlich motivierte - Kampagne gegen Magnum in Frage gestellt und lächerlich gemacht. Der Autor nämlich bedient sich der Logik des fotografischen Markts gegen dessen systematischen Zweck. Eben dies ist eine Variante der umgekehrten Lesart der Inquisition. Wer das Haus anderer Leute bei Tage anzünden will, hat natürlich einen triftigen Grund vorzuweisen - und eine moralische Absicht. Die Inquisition von heute spricht fast ausschließlich im Namen irgendwelcher Opfer. Auf der einen Seite also die Verfolgten, Ausgebeuteten und Benachteiligten, und auf der anderen Seite verschworene Eliten, die den gängigen „Theorien“ zufolge in der westlichen Welt und in der Aufklärung verwurzelt seien. Die Aufklärung steht in dieser Sichtweise nicht für eine Kritik absoluter Herrschaft, die Menschenrechte und die Selbstreflexion, sondern stellt ausschließlich ein Konstrukt „weißer Männer“ dar, um andere zu kolonialisieren.
Dass die New York Times über seine phantastischen Funde im Magnum Archiv nicht berichtet hat, deutet Andy Day als „Schweigen“. „Individuen“, glaubt er, „können sich nicht äußern aus Angst, die Türwächtereliten der Fotowelt gegen sich aufzubringen.“
Noch vor wenigen Jahren hat man von „stilbildender Kunst“ und „investigativem Journalismus“ gesprochen; jetzt sind alle durchgesetzten Formen, alle Bildikonen Symbole von Hegemonien, die es zu demontieren gilt. Aber die Communities der Blogger und Twitterer, die Bilderverbote - auch verbale Verbote - einfordern, werden die Welt nicht verbessern. Sie wollen andere einschüchtern, und das gelingt auch. Das perfekte Beispiel ist Martin Parr, der sich für die Neuherausgabe des „London“-Buchs von Gian Butturini entschuldigt und die Zerstörung der Restauflage verfügt hat.
Butturini war ein italienischer Werbegrafiker, der in den späten sechziger Jahren nach London kam, um eine Ausstellung zu gestalten, laut Gerry Badger im dritten Band von „The Photobook: a History“ (2014). Er fotografierte nicht das „swinging London“, sondern dessen „Verlierer“ (so die NZZ). Sein Buch, erschienen bei Editrice SAF in Verona 1969, ist ein lautes, aber auch pointiertes sozialdokumentarisches Traktat, konstruiert über sprechende Pendants. Eines davon zeigt die Ticketkontrolleurin der U-Bahn in ihrer engen Holzkabine, ein beklemmender Arbeitsplatz. Das Bild steht links. Auf der rechten Seite sieht man durch die Schemen eines Sicherheitskäfigs einen Gorilla im Londoner Zoo. Das Buch wurde damals begleitet von einem Gedicht Allen Ginsbergs. Rechter Subtext: ausgeschlossen. Das sieht man auch an Butterinis Bildern aus Chile und Nordirland.
Eine jetzt zwanzigjährige Ethnologiestudentin hatte von ihrem Vater zum 18. Geburtstag ein Fotobuch mit dem Titel „London“ geschenkt bekommen, Parrs Faksimile von Butturinis Buch. Sie entdeckte das fragliche Pendant und startete eine Kampagne gegen Parr, den sie für den „editor“ des Buches hielt, ein schwammiges Wort, das einen Herausgeber genauso meinen kann wie einen Gestalter oder Lektor. Um die verbale Übersetzung (moralische Verschlagwortung) zu leisten: Das Pendant sagt „Sie müsste sich eigentlich fühlen wie eingesperrt.“ Selbstverständlich meint die Doppelseite, in einem entschieden gesellschaftskritischen Buch, nicht: „Eine schwarze Frau ist wie ein Tier.“ Dass man so heute nicht mehr illustrieren würde, ist klar. Es gibt dieses U.K. nicht mehr, dieses London, die Klassengesellschaft, den Arbeitsplatz, die analoge Fotografie. „London“ ist ganz und gar ein Produkt seiner Zeit, aufgespießt von einem Italiener, der die berühmte Metropole für oberflächlich und aufgeblasen hielt. Das Faksimile des Originals in der Hand zu haben und dieses durchzublättern blieben der einzig mögliche Weg, Butturinis Arbeit und den Geist der Zeit zu begreifen.
Eine Entschuldigung Parrs, sein Rückzug vom Bristol Photo Festival, all das kann der Studentin - sie heißt Baptiste Halliday - nicht genügen. Sie lässt ihr geneigtes Twitter-Publikum wissen: „Er steht für eine Generation weißer Männer im mittleren Alter, die machen, was sie wollen, ohne jegliche Konsequenzen. Er ist Institution, und wir haben gerade erst angefangen, sie zu zerlegen.“ Hier trifft der puritanische, ikonoklastische Eifer auf eine stalinistisch gefärbte Politik der Denunziation, die ihr Ziel nicht verschweigt. Da Individuum und Institution nicht unterschieden werden, oder umgekehrt sogar als identisch gelten, ist es gleichgültig, auf welcher Seite die Zerstörung beginnt. ♦
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